Grußwort des BA Fabritius bei der Gedenkveranstaltung in Friedland

Typ: Rede , Datum: 03.09.2018

Grußwort des BA Prof. Dr. Fabritius anlässlich der Gedenkveranstaltung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland im Grenzdurchgangslager Friedland

  • Rednerin oder Redner

    Dr. Bernd Fabritius, Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten

Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrter Herr Innenminister Boris Pistorius,

Sehr geehrter Herr Vizepräsident des Bundestages Thomas Oppermann,

Sehr geehrter Herr Vizepräsident des Niedersächsischen Landtages Frank Oesterhelweg,

Meine Damen und Herr Abgeordnete aus Bundestag und Landtag,

Sehr geehrter Herr Bundesvorsitzender Johann Thießen,

Sehr geehrte Frau Vorsitzende der Landesgruppe Niedersachsen Lilli Bischoff,

Sehr geehrter Herr Heinrich Hörnschemeyer,

Sehr gehrter Herr Joachim Mrugalla,

Sehr geehrte Damen und Herren,

Liebe Landsleute,

Ich bedanke mich sehr herzlich für die Einladung, die ich sehr gerne angenommen habe. Ich darf Ihnen die herzlichen Grüße und guten Wünsche der Bundesregierung, insbesondere von unserer Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel und von unserem Bundesinnenminister Herrn Horst Seehofer überbringen. Mein ausdrücklicher Dank gilt der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland für die Ausrichtung der heutigen Veranstaltung, stellvertretend für alle Herrn Bundesvorsitzenden Johann Thießen und Frau Landesvorsitzenden Lilli Bischoff.

Wir begehen heute einen Gedenktag aus traurigem Anlass. Gibt es auch einen Feiertag, der für alle Deutschen aus Russland als Erinnerung an ein freudiges Ereignis identitätsstiftend ist? Wenn wir in der Geschichte ein entsprechendes Datum suchen, wäre dieses vergebens. Sicher ist der 22. Juli 1763, der Tag des Einladungsmanifests Katharina der Großen, ein wichtiges und historisch konstitutives Datum, aber eben auch nur für einen Teil der Deutschen, die im Russischen Reich bzw. der Sowjetunion lebten. Es lebten bereits zuvor Deutsche im Zarenreich und auch später folgten noch mehrere Einwanderungswellen, wie die Schwarzmeerdeutschen, die Kaukasiendeutschen, die Sibiriendeutschen und die Wolhyniendeutschen.

Der Tag, der jede Deutsche und jeden Deutschen in und aus Russland betrifft und mit stärksten Emotionen verbunden ist, ist ein zutiefst trauriger. Am 28. August 1941 wurde vom Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR der Erlass „Über die Umsiedlung der Deutschen, die in den Wolga-Rayons leben“ herausgegeben. Er betraf nicht nur die Deutschen im Wolgagebiet. Alle Deutschen, die im europäischen Teil der Sowjetunion lebten, wurden gleichermaßen aus ihrer angestammten Heimat vertrieben, nach Sibirien und Zentralasien deportiert und mussten dort unter zumeist schlimmsten Bedingungen um das nackte Überleben kämpfen. Trudarmee und Sondersiedlung folgten. Auf den Erlass folgte auch die formale Auflösung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen. Die große symbolische Strahlkraft der Wolgarepublik wirkt bis heute nach, sowohl in der Erinnerungskultur als auch im politischen Kontext.

Neben den Krimtataren sind die Deutschen das einzige Volk in der früheren Sowjetunion, deren territoriale Autonomie nicht wiederhergestellt wurde. Weil die ungeheuren Verluste für die eigene Kultur, ja die eigene Identität, auch nicht in anderer Weise ausgeglichen wurden, richteten sich die Hoffnungen vieler Russlanddeutscher auf die Wiederherstellung der Wolgarepublik als Voraussetzung für eine Lebensperspektive in der Sowjetunion bzw. in Russland. Es spricht viel für die These, dass sich die Aussiedlung der Deutschen in ihre historische Heimat Deutschland während und vor allem nach dem Kalten Krieg in einem deutlich geringeren Ausmaß vollzogen hätte, wenn die Pläne zur Wiederherstellung der Wolgarepublik verwirklicht worden wären. Dem berechtigten Anspruch der Deutschen in und aus Russland auf vollumfängliche Rehabilitierung steht auch nicht die historische Tatsache entgegen, dass Deportation, Drangsalierung und Diskriminierung der Deutschen in der Sowjetunion eine Folge des völkerrechtswidrigen Angriffs des nationalsozialistischen Deutschlands auf die Sowjetunion im Sommer 1941 und die sich daran anschließende verbrecherische Kriegsführung und Besatzungspolitik sind.

Die Bundesrepublik Deutschland hat bereits mit ihrer Gründung die daraus resultierende Verantwortung gegenüber den Deutschen im östlichen Europa und der Sowjetunion übernommen. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben mit dem Art. 116 festgelegt, dass neben deutschen Staatsangehörigen Deutsche im Sinne des Grundgesetzes auch diejenigen sind, die „als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling“ in Deutschland Aufnahme gefunden haben.

Die Umstände, unter denen die Deutschen in der Sowjetunion leben mussten, und deren Nachwirkungen, schufen einen Vertreibungsdruck, der für viele immer noch besteht. Deshalb ist die Haltung der Bundesregierung unverändert klar: Das Tor nach Deutschland bleibt für die Deutschen in Russland und den anderen Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion offen! Dem steht nicht entgegen, dass die Bundesregierung mit Hilfen für die deutschen Minderheiten auch vor Ort die Schaffung von guten Bleibe- und Lebensperspektiven unterstützt, damit Deutsche in den Ihnen angestammten Siedlungsgebieten bleiben können!

Die Deutschen aus Russland, die aber als Spätaussiedler zu uns kommen, haben nicht nur ein Recht auf Aufnahme, sondern auch auf unsere Solidarität. Das haben auch Sie, Herr Minister Pistorius, bestätigt und den Spätaussiedlern heute zugerufen „wir zählen auf Sie“. Ja, auf Spätaussiedler kann man zählen, diese lassen sich in die Pflicht nehmen! Sie sind nach Deutschland gekommen, haben mit angepackt, die Ärmel hochgekrempelt. Trotzdem lassen wir sie auch Solidarität vermissen.

Es gibt auch Ungerechtigkeiten. Zu diesen gehört, dass Deutsche aus Russland unabhängig von ihrer konkreten Lebensarbeitsleistung überproportional von Altersarmut betroffen sind. Dass sie ihre eigene, durch harte Arbeit erworbene Alterssicherung heute wegen der Aussiedlung nicht mehr zur Verfügung haben und für die Zeit vor der Aussiedlung nicht in das deutsche Alterssicherungssystem einzahlen konnten, ist unmittelbarer Ausfluss ihres Verfolgungsschicksals in der früheren Sowjetunion. Dass Deutsche aus Russland also heute Fremdrente erhalten, ist kein ungerechtfertigtes Privileg, sondern im Gegenteil die konsequente Wahrnehmung der Verantwortung für das Kriegsfolgeschicksal. Die Bundesrepublik Deutschland ist dieses den Spätaussiedlern schuldig.

Leider hat eine unselige Neiddebatte Anfang der 1990er Jahre - Sie Herr Vizepräsident Oppermann sprachen heute von Ressentiments gegen Spätaussiedler aus Russland - zu einer Absenkung der Fremdrenten auf ein Niveau geführt, das unterhalb der Armutsgrenze liegt. Dadurch wurde für eine einzelne Gruppe, die Spätaussiedler, der Generationenvertrag einseitig aufgekündigt. Die Kinder der Spätaussiedler im Rentenalter zahlen heute erheblich mehr in die Rentenkassen ein, als ihre Eltern als Fremdrente erhalten.

Sie, Herr Vizepräsident Oppermann, haben Spätaussiedler als eine Bereicherung für Deutschland bezeichnet. Ja, Spätaussiedler sind eine Bereicherung für Deutschland. Ich füge aber hinzu: Spätaussiedler sind auch eine Bereicherung für unsere Rentenkassen! Durch die ungerechten Benachteiligungen sind Kinder der Spätaussiedler doppelt belastet: Sie müssen sowohl in die Rentenkassen voll einzahlen wie auch ihre Eltern zusätzlich unterstützen, die wir weitgehend von der Partizipation an unserer Solidargemeinschaft ausschließen. Das ist ungerecht und muss geändert werden!

Ich habe deshalb als Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Altersversorgung von Spätaussiedlern unterbreitet. Hierfür ist eine breite politische Unterstützung, auch über Parteigrenzen hinweg, notwendig. Ich bitte Sie, Herr Vizepräsident Oppermann, helfen Sie mit, dass auch der Koalitionspartner der Unionsparteien diese in dem Bestreben unterstützt, die ungerechten Benachteiligungen von Spätaussiedlern zu beseitigen.

Die Zeit ist reif: In der öffentlichen Debatte wurden seinerzeit die Fremdrentenkürzungen auch mit den damals sehr niedrigen Renten in Ostdeutschland begründet. Nachdem hier inzwischen die 100%ige Angleichung an das Westniveau in Sicht ist, müssen die Fremdrenten nachziehen. Dieser politische Prozess muss von einer breiten Aufklärung über das Schicksal der Deutschen aus Russland und die historische Verantwortung aller Deutschen ihnen gegenüber begleitet werden. Auch deshalb sind Veranstaltungen wie der heutige Gedenktag so wichtig. Es muss darüber aufgeklärt werden, dass Spätaussiedler als Angehörige unseres Kulturkreises, als Deutsche, nach Deutschland gekommen sind, weil die Konsequenz des Zweiten Weltkrieges ihnen letztlich das heimatliche Umfeld und das Verbleiben dort unmöglich gemacht hat.

Eine ganz besondere „Sehnsucht nach Heimat“, meine Damen und Herren, die im Herkunftsgebiet nicht mehr erfüllt werden konnte, war das ausschlaggebende Gefühl für den Aufbruch von dort – und prägend für das Ankommen hier in Deutschland. Viel zu lange wurde dieses in einer vom Zweiten Weltkrieg und dessen Folgen für die Zivilbevölkerung inzwischen Jahrzehnte entfernten Wohlstandsgesellschaft in Gleichgültigkeit übersehen: Spätaussiedler wurden zunehmend nicht mehr als wieder heimkehrende Landsleute, sondern als eher fremde Zuwanderer wahrgenommen, thematisiert und adressiert. Fatale Konsequenz dieses Versäumnisses war für viele im Ergebnis die Enttäuschung dieser Sehnsucht. Dieser Sehnsucht nach Heimat, die auch in Deutschland nicht vorhanden zu sein schien.

Mit diesem Irrtum müssen wir ebenfalls aufräumen. Wir müssen Spätaussiedler – gerade auch die Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion – von allgemeinen Zuwanderern klar unterscheiden. Wir müssen dort Angebote zur nachholenden Integration machen, wo Spätaussiedler ihre Rolle als Teil unserer Gesellschaft noch suchen. Denn sie gehören zu uns, sie waren, sie sind und sie bleiben uns willkommen!

Die Deutschen aus Russland sind gut in der Bundesrepublik Deutschland angekommen und haben sich ein neues Leben aufgebaut. Nicht durch staatliche Almosen, wie oft fälschlicherweise behauptet wird, sondern in erster Linie durch Arbeit, Fleiß und familiären Zusammenhalt.

Der Anlass für diesen Gedenktag ist sehr traurig, deshalb begehen wir ihn mit der angemessenen Zurückhaltung und Würde. Die Deutschen aus Russland können jedoch auf große Leistungen und Erfolge zurückblicken und der Zukunft froh und hoffnungsvoll entgegensehen.